Womit wir auch bei den Dingen sind, die das Album wohl immer umgeben werden: Zum einen natürlich Iris, zum anderen der Umstand, dass von den runtergebolzten Zweiminütern, der knatschigen Kaugummistimme von Bassist Robby Takac und der "Hollywood can fall in the ocean man, it's the ugliest place in the whole wide world"-Attitüde so gut wie nichts mehr übrig war. Zudem gab es einen Labelwechsel, der Drummer wurde ausgetauscht und die Haare abgeschnitten; statt Mähne gab es gegelte Strähnchen. Es fällt immens schwer, da nicht an kapitalen Hochverrat an der Musik, der Szene und allem was hoch und heilig ist (Vorstellungen dessen, was die Zielgruppe an Frisuren gut findet), zu denken.
Allerdings ist das Album halt trotzdem fantastisch und dem Vorgänger in so ziemlich allen Belangen überlegen - wenn auch nicht in allen.
Der Reihe nach. Der Drummer flog bereits vor dem Release vom Vorgängeralbum, da Streitigkeiten um Songwritingcredits und der zunehmende Fokus auf Johnny Rzeznik, Gitarrist und inzwischen Hauptsänger, wohl Knatschpunkte waren. Während einstmals die Rotzlöffelstimme vom Bassisten die meisten Songs verzierte, zeichnete sich zunehmend eine Verschiebung ab, und die vom Gitarristen intonierten und verfassten Songs wurden sowohl immer mehr als auch das, was als Singles veröffentlicht wurde. Dass der neue Drummer etwas differenzierter und technischer unterwegs war als der alte, dafür die Songs im Schnitt etwas weniger polterten - geschenkt. Dass auch er offenbar riesiger Replacements-Fan war - durchaus glaubwürdig. Denn den Soundwandel an den Drums festzumachen, wäre allein wegen der deutlich aufwändigeren Produktion eher irreführend. A propos, Streicher gab es 1993 schon auf einer damals der ganzen Band plus Paul Westerberg (!) zugeschriebenen Nummer, und Hollywood-Soundtrack-Beiträge mit I'm Awake Now auch schon anfang der 90er. Was aber definitiv gegenüber Früher zugenommen hatte, waren die bizarren Gitarrentunings, nachdem die Akustikballade Name vom direkten Vorgängeralbum A Boy Named Goo sämtliche vorigen Verkaufszahlen toppte und standard-tuning-Gitarristen verzweifeln ließ.
Und, nach all dem - wie und wonach klingt das Album nun? Nach Alternative Rock, dem man anhört, dass die Mitglieder durchaus wissen, was Punkrock ist, aber der die entsprechende Direktheit eher in einen Americana/Folk-Kontext überträgt. Die Ramones könnten mit ihrer Powerchord-Attacke hier so gut wie jeden Song covern, denn im Vordergrund stehen die Gesangsmelodien. Aber in den hiesigen Fassungen halt auch die Dynamik durch das dann doch deutlich gelockerte Arrangement: Viele Akustikgitarren und Texturen, vielleicht vergleichbar mit dem, wie Tom Petty immer "normalen" Rock interpretierte. WIRKLICH anders als früher (oder auch als die Replacements auf ihren letzten zwei Alben) ist das also nicht, aber der Schwerpunkt ist halt noch weiter zum Poppigen gewandert, und das Gaspedal bleibt, vor allem was die Gitarre angeht, in der Schwebe. Der Gesang ist, bei allen eindringlichen Bekenntnissen, eher ein Vortrag, ein Bericht, kein im Falsett daherschwurbelndes Crowdanimationsinstrument. Wer zwar die Goo Goo Dolls nicht kennt - bzw. diese Phase der Band nicht, die ja für die nächsten Jahre den neuen Stil bereitstellen sollte - wohl aber Hey Jealousy von den Gin Blossoms, kann sich in etwa ausmalen, was einen auf dem Album erwartet. Nur halt eben mit seltsamen Gitarrentunings.
Auch Iris, der Schmachtfetzen vor dem Herrn und Megahit des Albums, wartet mit bizarrem Tuning auf, ist aber in der Jahre später veröffentlichten reduzierten Demo gar nicht mal so gut. Tatsächlich kann man der Produktion viel vorwerfen, aber nicht, dass sie nicht zu den Songs passt. Man mag die Streicher und den verstärkt cleanen Sound der Gitarren nervig finden, aber überproduziert ist das nicht - es lässt die Songs tatsächlich besser rüberkommen. Das soll nicht heißen, dass es nicht auch Nummern mit verzerrten Gitarren gibt - mit Hate This Place ist der Rausschmeißer sogar einer absolut besten Songs der Band überhaupt, mit diesem unendlich sehnenden Gesang, und durch all die Melancholie und das vertonte Außenseitertum hindurchscheinenden Umarmen für, natürlich, die große Liebe. Das kann man furchtbar kitschig finden, aber dieser große Gestus, diese Romantik für das Außenseitertum und das gleichzeitige Hochjazzen von den Leuten und Dingen, die einem nahestehen, ist auch nicht naiver als 99% aller Hardcore-Lyrics. Klar, es ist meilenweit von einem Fugazi'schen "promises are shit" weg, aber als solches auch schon wieder Gegenkultur zu einer zunehmend nihilistischen Gegenkultur, die sich viel zu abgeklärt und cool für Romantik fühlt (wozu Ian McKaye fairerweise nicht gezählt werden sollte). Die "egal für was du dich entscheidest, ich will bei dir sein, und wir packen das"-Nummer wird auch bei Slide, ebenfalls ein absolutes Juwel, gefahren - möglicherweise der typischste Song für diese Phase der Band, mit herbstlich durchgezupftem Gitarrenintro, aber auch einem Text, der aber, anders als bei Tommy & Gina, mal eben von Teenager-Schwangerschaft, Abtreibung und streng religiösen Eltern handelt. Wait, what?
Denn durch all die Songs, ob nun musikalisch oder textlich, scheint die Melancholie eben nicht nur in einem "Baby, ich sehe an deinem Blick, dass du schlimme Dinge gesehen hast" durch. Alkoholismus als gelebter Konservativismus (Broadway), ihr Elend tränenvoll ertragende Hausfrauen (Acoustic #3), Heroinsucht (Black Balloon) - all das wird abgedeckt, aber mit einem "mit mir nicht" versehen; und Herrgott, man will und kann es glauben. Gerade WEIL die Hoffnungsanker nicht in einer Zuckerwelt positioniert werden. Und das liegt nicht nur an den Texten, sondern auch am Vortrag und der Musik dazu, die sowohl schonungslos in ihrer Direktheit als auch nicht so vollkommen glatt, wie es zunächst erscheinen mag, sind. Der Kontext macht halt schon den Unterschied, ob eine Akustikballade gewagt oder abgeschmackt wirkt. Und wer dieser Romantisierung von Verzweiflung und mittelständischen Nischenproblemen zu fragenden Mollklängen unendlichen Konservativismus attestieren will, kann sich überlegen, inwieweit man das dann nicht auch bei Springsteen tun könnte. Und als Plädoyer für einen sehnenden Ausbruch wider dem Abfinden mit dem, was schon immer war macht die Richtung des Albums auch musikalisch Sinn. Die vom Bassisten gesungenen und geschriebenen Nummern sind musikalisch wie textlich indes etwas weniger differenziert, etwas plumper, etwas weniger poppig, aber kein Fremdkörper und passen im Albumfluss auch gut rein - Extra Pale wäre wohl mein Highlight von seinen insgesamt vier von dreizehn Songs.
Jedenfalls, dieses leicht Abgewetzte unter all der hoffnungslosen Romantik und Millionendollarproduktion ist auch der Grund, warum - trotz all dem Soundwandel, den Umständen des Releases, der Zukunft der Band mit externen Songwritern und plastischer Chirurgie nach Joan Rivers-Vorbild - dieses Album glaubwürdig und gelungen tönt. Es mag letztlich Kaffeesatzleserei sein, inwieweit Songs aus Kalkül oder ernster Empfindung entstehen, aber ich komme mir hier nicht verarscht oder übertölpelt vor, wenn ich mich auf die Sache ein- und die Musik an mich heranlasse. Es gibt Genres, da ist es egal, wie aufrichtig und nachvollziehbar das wirkt, was die Songs mir mitteilen, da will ich die fist raisen, moshen, oder sonstwas - aber was auch immer das nun ist, College Rock, Alternative, Pop-Rock - das zählt in dem Fall nicht dazu. Zu eindringlich ist der Vortrag, zu vertraut auch Vieles von dem, was geboten wird. Aber es wirkt stimmig, und das Album funktioniert wunderbar.
Achja, was das Album trotz all der lobenden Worten dann doch nicht besser macht als der Vorgänger - wirklich riffig daherpolternde Rocksongs wie Long Way Down gibt es nur bedingt. Zerre und eine gewisse Härte ja, aber Drive und Härte eher nicht. Die fist wird wie gesagt anderswo geraised, aber mitsingen kann man hier trotzdem großartig. Superstar Car Wash ist das Album, das ich persönlich lieber mag, aber es fällt schwer, Dizzy Up The Girl als lupenreines Hitalbum zu kritisieren - das, was es sein will, ist es auf fantastische Art und Weise.
Songs:
Slide
Hate This Place
Bulletproof
Iris
Extra Pale
Zuletzt geändert von Alphex