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Best of '96: BAD RELIGION - The Gray Race

Alphex

Bad Religion - The Gray Race
Veröffentlicht 1996 bei Atlantic Records / Sony


1996 fand dieses Album für mich gar nicht statt - als Neunjähriger beschränkte sich meine musikalische Frühsozialisation auf Videospielmusik und die NDW-Tapes meiner Eltern im Auto. Entdeckt habe ich es dann zusammen mit dem Rest des BR'schen Oeuvres, 2002/2003 - in der Folge dann als Erstkauf zusammen mit Recipe For Hate. Das zu meiner persönlichen historischen Einordnung.

Was mich damals deutlich weniger gestört hat als viele beim Release: In der Bandhistorie stellte The Gray Race das erste Album dar, auf dem der zweite Kreativkopf der Band, Epitaph-Chef Brett Gurewitz, nicht als Songwriter beteiligt war. Nach dem kollektiv beschlossenen Wechsel zu Atlantic hatte Mr Brett mehr Zeit, sich um sein Label zu kümmern - woraufhin The Offspring auf eben jenem durch die Decke gehen sollten. Brett stieg bei Bad Religion aus, was mehr oder weniger harmonisch verlief - nachgetreten wurde durch einen nahezu vollständigen Verzicht seiner Songs auf dem 1997 erscheinenden BR-Live-Album Tested, oder durch eine sparsam verkleidete Anti-Hymne auf ehemalige Bandkollegen.

Dem wohl bekanntesten Song des Albums, dem Punk Rock Song, hört man mit dem Hintergrundwissen dann tatsächlich an, dass der verbleibende Hauptsongwriter, Sänger Greg Graffin, explizit versucht war, die Auswirkungen des Ausstiegs minimal spürbar zu halten: Der Aufbau des Songs, bei dem die Bridge dann sogar von Bassist Jay Bentley gesungen wird, erinnert frappierend an den Gurewitz'schen Überhit "Digital Boy" - identische Akkorde im Refrain inklusive. Denn Neugitarrist Brian Baker ist zwar bis heute der mit Abstand beste Solist, den die Band je haben sollte - sein Songwriting jedoch erinnert eher an seine vorherige / immer mal wieder-Band Dag Nasty als an klassische BR-Nummern: Atmosphärische Gitarrentexturen (The Gray Race - wer den Dag Nasty-Einfluss hören will, höre Trouble Is an), einfache Melodiefiguren über sich verschiebende Basstöne (Streets Of America) - und unerwartet düdelig-fröhliche (die anderen beiden, die ich immer skippe). Ich halte von Baker als Songwriter nicht wenig (Can I Say!), der manisch-poetische Genius von Gurewitz geht trotzdem anders. Ergo war es an Greg Graffin, in die Bresche zu springen - die Gesangsmelodien und Texte aller Songs dieses Albums stammen ohnehin von ihm, der daher - anders als zuvor - an jeder Nummer des Albums beteiligt war.

Allerdings: Erhöhtes Arbeitspensum oder nicht, mir gefällt das Album besser als der direkte Vorgänger. Der Sound matscht weniger basslastig, was den Melodien mehr Raum zum atmen gibt, und die Riffs schneidender tönen lässt. Zudem wurden die berühmt-berüchtigten Chöre selten engelsgleicher in Szene gesetzt (siehe Victory oder das mit einer völlig bombastischen drei-Töne Hook und einem recycleten Riff von Pessimistic Lines daherkommende Them And Us). Für Rumpelpuristen, denen die Chöre schon bei Suffer zu viel waren, dürfte das die blanke Affront darstellen - ein angenehmer Nebeneffekt. Ich fand und finde diese Passagen, so sie stilsicher inszeniert sind, immer sehr toll - und höchst effektiv ohnehin. Tatsächlich verleihen diese massiven Chöre, zusammen mit dem nüchternen Tonfall der Texte dem Ganzen ein kaum zum Stolpern bringendes Flair: Erklärbär Graffin und sein Choral sind sich ihrer Sache sicher. (Ein Schelm, wer mutmaßt, warum ein Album, auf dem Gefühle nur in der Form von Klagen oder Analysen stattfinden, und Körperlichkeit oder gar Sex überhaupt nicht stattfinden, für Pubertierende ein gewisses Gefühl von Sicherheit und Stärke vermittelt.)

Musikalisch ist also alles mehr oder weniger beim alten, wobei Bakers Gitarrenspiel gelegentlich dezente Hardrock-Pinselstriche erlaubt (neben Streets Of America ist sein Solo bei 10 in 2010 auch jenseits von allem, was Greg Hetson oder Brett Gurewitz jemals spielen könnten - am nächsten kamen die beiden wohl auf Generator). Melodischer California-Punkrock mit Hardcorewurzeln und Betonung der Gesangsmelodien ist der Herr im Lande. Das Energielevel ist durchaus hoch, aber stets kontrolliert; Bobby Schayers Drumming ist immer noch etwas zurückhaltender als das seines Vorgängers, aber weniger überfrachtet wie das seines Nachfolgers; der Bass ist relativ weit unten im Mix und macht leider auch weniger spannende Dinge als es sonst durchaus gerne mal der Fall war; und Greg Graffin singt immer noch fantastisch. Die Texte sind gewohnt eher distanziert als unmittelbar emotional, auch wenn Nummern wie Parallel doch recht nahe an teenage angst kommen, und mit Pity The Dead wird das Thema Sterben dann doch weit weniger grenzautistisch behandelt als das noch auf dem vorigen Album mit Slumber der Fall war. (Mitgefühl geht trotzdem anders, und das auf einem Album, dessen Titeltrack sich ausgerechnet mit dem Thema Menschlichkeit auseinandersetzt.) Die Bridge bei Pity The Dead ist musikalisch zudem ein einziger Klimax, fantastisch arrangiert und inszeniert.

Und in der Tat, man hört dem Album das Bestreben an, Abwechslung im Bandkosmos zu bieten - die fröhlicheren Nummern gehen zwar wie schon erwähnt eher nicht auf, aber nach Stangenware tönt auf dem Album wenig. Die Arrangements wirken natürlich, nicht "und jetzt, weil wir ja Punkrock spielen, muss das kommen" - das hat es den letzten Alben der Band allemal voraus. Ohne Gurewitz als Songwriter bleibt die Abwechslung etwas weniger ausgefallen (siehe Recipe For Hate für dessen Vorstellung von "mal was anderes") - langweilig wird es trotzdem nicht. Abseits von megamelodischen Choruskleinoden der Marke Them And Us, A Walk oder Come Join Us sind auch oft mals nette kleine Schlenker oder Details in den Songs versteckt (das Gitarrenriff im Refrain des Punk Rock Songs macht einen Großteil des Reizes aus), und neben der Bridge von Pity The Dead ist diese auch bei Victory absurd großes Kino. Und überhaupt, dieser Song: "histooooory, history is laughing at us, plotting its discovery, blame it all on victory" - dass WC-Ente-als-Mundwasser-Rancid in den 90ern größerer Erfolg bescheiden war als Bad Religion, ist völliger Wahnwitz.

Anspieltipps: Die kafkaeske Einsamkeitshymne Parallel, das breitwändige Streets in America, der Hit Punk Rock Song, das vergleichsweise rumpelnde 10 in 2010, und das Gänsehautepos Cease (die letzte Strophe, wenn Graffin nur von Bass begleitet singt!). Auch super: Pity the Dead (der Text gibt hier Abzüge), Victory (siehe oben), Them And Us (vielleicht schon ZU simpel, aber ein Ohrwurm vor dem Herrn)... ja. Starkes Album.

PS: Wegen der Frisur vom Bassisten im Punk Rock Song-Video habe ich mir dann mit 15 die Haare wachsen lassen.

Zuletzt geändert von Alphex

Alphex
Punk Rock Song:


Parallel:


10 in 2010:


Cease:


Streets Of America:
Powder To The People
Mit viel Herzblut geschrieben. Sehr schön.:cheers:
Ich persönlich könnte in 3-Akkorde-Punkrock nicht so viel hören oder gar songwriterisch bewerten. Bad Religion fand ich immer ok aber in meinem Universum völlig irrelevant. "Punk Rock Song" kann man gar nicht nicht kennen. Graffin versuchte immer, gute Gesangsmelodien zu schreiben. Das rechne ich ihm hoch an. Viele Calipunk-Kollegen waren diesbezüglich wesentlich mehr underwhelming. Mir ist es dennoch, ähnlich wie bei Ignite, insgesamt zu clean. Live klingt seine Stimme durchaus kraftvoll. Auf Konserve konnte er mich nicht packen.
Woas Sois...
Gut seziert, das Album. Gray Race war für mich noch mal ein Highlight bei der Band, danach trennten sich unsere Wege etwas. Allerdings sind wir bis dahin schon einen weiten Weg miteinander gegangen. Von der Suffer an, Live 92 zur Generator begeistert gewesen, den kleinen Stilwechsel mit der Recipe beklatscht. Bad Religion gehört zu meinem musikalischen Werdegang.
Olsen
tl;dr

Na gut, stimmt nicht. Ich schließe mich aber Powdi an: spannend, zu lesen, dass man über Punkrock so viel schreiben kann. Ich könnte es sicher nicht. Bis heute hab ich dieses Album noch nie gehört und ich frage mich, woran das liegt. Den Vorgänger mochte ich rauf und runter, war mein Einstieg in Bad Religion. Lag es am Cover, am Albumtitel? Ich weiß es nicht mehr.
Crackerman
Von Bad Religion hab ich ein wenig, u.a. auch diese. Aber ich glaub, nur aus Neugier mal vom Flohmarkt günstig mitgenommen. Hörte sich für mich alles sehr gleich an, hat aber immerhin gerockt.
Mehr kann ich leider zu BR nicht sagen, aber ein schönes Stück Arbeit :thumbsup:.
mahoney
Eine unglaublich wichtige Band und auch ein sehr wichtiges Album für mich, da es meine erste CD von ihnen war.
Eigentlich wollte ich von Anfang an "Suffer" haben, wegen "You" vom Tony Hawk 2(?) Soundtrack, aber in einer kleinen Stadt mit einem noch kleineren Plattenladen muss man nehmen was zu kriegen ist.

Was mir auch heute noch am am deutlichsten auffällt, ist der extrem starke Albumeinstieg mit den ersten 4 Songs, der "The Gray Race" von anderen Bad Religion Alben imho sogar nochmal etwas abhebt. Allerdings kann diese Qualität danach nicht mehr ganz gehalten werden, trotzdem ist es ihr letztes wirklich großes Werk.

Ansonsten kann ich deinen Beitrag wirklich in allen Teilen sehr gut nachvollziehen (bis auf den Rancid Diss, der war unnötig :wink:), wirklich gut geschrieben.

Zuletzt geändert von mahoney

Olsen
Das mit Rancid habe ich ganz überlesen. Ist das wirklich so, dass Rancid in den 90ern erfolgreicher waren als Bad Religion?
mahoney
In den USA haben Rancid schon ziemlich abgeräumt, in Deutschland war Bad Religion deutlich erfolgreicher, treue Fanbase und so.
Flabes2000
Und der Umstand dass Bad Religion mit fast jedem neuen Album auch auf Deutschland Tour gekommen ist. Rancid haben sich hier ziemlich rar gemacht. Und wenn sie dann mal kamen hatte ich keine Zeit hinzugehen :heul:
AERPELSCHLOT
Ich finde ja, Rancid sollten mal ne Kollaboration mit Danzig machen. Namensvorschlag: Ranzig.
Drunken Third
Fips Asmussen hat angerufen, er will dich verklagen.
Wegen mieser Wortwitze.

Zuletzt geändert von Drunken Third

Olsen
Wenn man jetzt bloß Englisch könnte.
schmuddelkatze
Wow, Du hast mich definitiv angefixt, dieses Album in nächster Zeit durchzuhören. BR höre ich sonst nur noch beim auflegen. Danke!
Alphex
Graffin versuchte immer, gute Gesangsmelodien zu schreiben. Das rechne ich ihm hoch an.Powder To The People, 20.12.2015 18:30 #


Bad Religion drehen sich seit jeher zu 90% um die Melodien. Die Gitarren, bzw. der ganze Rest, bringen halt Druck und eine passende Umgebung, aber man muss schon auch sagen, dass z.B. NOFX, No Use For A Name, Pennywise oder Offspring deutlich präsentere Riffs haben. Bad Religion-Songs sind fast alle ohne viel "Wertverlust" auf einer Akustikklampfe zu spielen - der immer so betonte "Power-Folk"-Aspekt ist zwar etwas übertrieben in der Wahrnehmung (der folkigste Song dieses Albums ist IMO der schwächste), aber "Liedermacher mit Zerre" könnte man schon sagen.

Das gute an dem Album ist halt, dass die "Zerre" gut ausgearbeitet drüber liegt. Victory hat im Intro recht nettes Interplay zwischen den Instrumenten; das ist nicht "machen wir halt einen Punksong draus".

Bad Religion gehört zu meinem musikalischen Werdegang.Woas Sois..., 20.12.2015 18:52 #


BR ist sowas wie meine erste richtig große, ewige musikalische Liebe. Ich höre sie heute nicht mehr so oft, aber es wird wohl kaum je wieder eine Band geben, die mir so viel bedeutet hat und die so unabdingbar "meine Lieblingsband" war. Ich habe zudem auch mit dem Spielen der Gitarre und dem Schreiben von Songs angefangen, als ich total auf BR stand, also dürfte auch auf der Ebene bis heute etwas spürbar sein. Wie man Melodien schreibt, habe ich definitiv u.A. bei ihnen gelernt.

Bis heute hab ich dieses Album noch nie gehört und ich frage mich, woran das liegt. Den Vorgänger mochte ich rauf und runter, war mein Einstieg in Bad Religion. Lag es am Cover, am Albumtitel? Ich weiß es nicht mehr.Olsen, 20.12.2015 18:53 #


Dann hol es doch nach. :smile:

Eigentlich wollte ich von Anfang an "Suffer" haben, wegen "You" vom Tony Hawk 2(?) Soundtrack, aber in einer kleinen Stadt mit einem noch kleineren Plattenladen muss man nehmen was zu kriegen ist.mahoney, 20.12.2015 23:53 #


Der ist auf No Control, was sowieso das bessere Album ist :bigsmile:

Was mir auch heute noch am am deutlichsten auffällt, ist der extrem starke Albumeinstieg mit den ersten 4 Songs, der "The Gray Race" von anderen Bad Religion Alben imho sogar nochmal etwas abhebt. Allerdings kann diese Qualität danach nicht mehr ganz gehalten werden, trotzdem ist es ihr letztes wirklich großes Werk.


Ich würde schon sagen, dass danach noch Songs auf dem Niveau der ersten vier kommen (zumal mich der Titeltrack heute weniger beeindruckt als mit 16), aber vom Fluss her hast du Recht.

New Maps Of Hell finde ich auch richtig gut, das ist allerdings etwas weniger smart arrangiert. The Empire Strikes First ist auch richtig gut, ebenso The Process Of Belief. Aber gut, das waren die Alben, die frisch rauskamen, als ich der totale Fan war. Ich sage mal so: No Substance und The New America haben dem Zauber der Band wohl etwas geschadet; also auch hier: Der Fluss wurde unterbrochen.

Wow, Du hast mich definitiv angefixt, dieses Album in nächster Zeit durchzuhören. BR höre ich sonst nur noch beim auflegen. Danke!schmuddelkatze, 21.12.2015 22:57 #


Das freut mich! Generell Danke für all die lieben Worte betreffend das Review :3
Olsen
Bis heute hab ich dieses Album noch nie gehört und ich frage mich, woran das liegt. Den Vorgänger mochte ich rauf und runter, war mein Einstieg in Bad Religion. Lag es am Cover, am Albumtitel? Ich weiß es nicht mehr.Olsen, 20.12.2015 18:53 #


Dann hol es doch nach. :smile:Alphex, 22.12.2015 14:58 #


Da stehen noch zwei, drei andere Bad-Religion-Platten vor. Und ich habe halt so zirka alle drei Jahre mal Lust, ein neues zu entdecken.
Alphex
Welche hätten denn mehr Priorität?
Olsen
No Control, Against The Grain, Recipe For Hate, eventuell The Process Of Belief, weil mir das Cover so gut gefällt.
Alphex
No Control kennst du auch nicht? Zusammen mit Generator meine liebste. Recipe For Hate könnte dir auch gefallen, die hat Alternative-Einschlag und ungewohnte Exkurse.
Olsen
Ich kenn überhaupt nur Suffer, Generator, Stranger Than Fiction (für immer unschlagbar bei mir) und True North (überraschend stark).