Tindersticks –
The First Tindersticks Album (1993)
#6
Mit neunundzwanzig und eine Woche vor der häuslichen Quarantäne dämmerte mir etwas, was noch nie zuvor war: Nur weil die Menge in der Bar jünger wird, heißt das nicht, dass ich es werde. Ich erhaschte einen Blick auf meinen zurückgehenden Haaransatz und für den Bruchteil einer Sekunde betete ich, dass ich nicht im selben Thekenspiegel sitze. Es ging noch weiter: Meine Kollegen und Verwandten sind alle bis zu einem bestimmten Grad aufwärtsstrebend, haben schon eigene Familien. Wenn man mal was von ihnen wollte, dann hatten sie nur selten eine Hand frei, da ihre Zeitpläne weniger offen sind als meine. Diejenigen, die hier oft herumhängen, werden wohl immer breiter. Ich muss betrunken gewesen sein -
"Turn my whiskey into water", singt Stuart Staples und ich bemerke einen gewissen Frieden in der Stimme. Ich hab mich wohl zu stark mit den Tindersticks identifiziert, entschuldigt, aber sie lösen all diese Probleme, indem sie einfach aufgeben. Staples erzählt derweil von einem Dutzend gescheiterter Beziehungen:
"Was there once something so pure that left me whole and precious? But now, broken, wondering. Everything I crave I become, everything I left forgotten, everything I love I become. Cos that’s what happens when you reach the bottom." Die blauen Flecken erheben sich und erinnern uns gleichermaßen an die fucks und kiss-offs. Die Dramaturgie erstreckt sich exzellent auf die Musik der Band. Als gescheiterte Musiker mieteten sich Tindersticks ein Haus im Stadtteil Kilburn und richteten sich in der Küche ein Studio ein. Das Unglück brachte sie wieder in Schwung, denn jeder Song war von Hand gefertigt und poliert.
"Her" beginnt mit einer gespenstischen Gitarre bis es in in wirklich kathartischen Pop seinen Höhepunkt erreicht. Die alten Liebhaberinnen würden wohl spätestens jetzt nicht mehr zu Tür reinkommen. Staples leert sein Glas und wundert sich warum der Whiskey seine Stimme so laut hallen lässt:
"Scared of my shadow, afraid of myself. Never thought I could be so shallow, resort to playing a man."
Vor zehn Jahren fand ich das Debütalbum der Tindersticks mit der tanzenden Frau im rotwallenden Kleid darauf zu schläfrig. Jetzt liebe ich die schrägen Töne, die ungestimmten und kreischenden Gitarren, die schrillen Trompeten, die leise und zarte Stimme von Stuart Staples; denn das alles trägt zum Grundgefühl von Triumph durch Trostlosigkeit bei, dem Gefühl, keinen wirklichen Platz in der Welt gefunden zu haben. Wie die meisten meiner Freunde werde ich mich wohl mit den Bedingungen des Lebens versöhnen müssen. Für den Rest von uns gibt es zum Glück das Debütalbum der Tindersticks, mit der tanzenden Frau im rotwallenden Kleid.
Prätentiöser Genießertipp: Wartet bis es dunkel wird und hört euch gerührt von einem Abend, in dem sowas wie Magie liegt, diese Platte zu einem Glas Whiskey oder Rotwein an.