Ganz ehrlich? Ich sehe das in einer Linie zu dem, dass Erdogan aktuell den Stinkefinger auspackt, wenn man "aber doch erwarten kann, dass er die Akademiker alle Deutschland gibt" (was ja seit langem als "Masterplan" vermutet wurde). Denn Politik ist immer eine einstudierte Choreographie, bei der bestimmte Rituale und Sitten eingehalten werden, weil beide Seiten davon ausgehen, dass es ihnen zum Vorteil gereicht. Altgediente Parteien hätten den Subtext "hier, lesen sie das mal, sie kennen es ja offenbar nicht" ignoriert - faktisch bestand ja kein expliziter Beleidigungstatbestand, sondern nur Indizienbeweise. Für die AfD (und deren Zielgruppe!) allerdings reichten die schon - für sie lohnt es sich nicht, dieses Ritual abzuspulen. Erdogan wiederum hat es nicht NÖTIG, das Ritual abzuspulen - er sitzt am längeren Hebel. Beides ist für die Gegenseite ungewohnt - Deutschland bzw. die EU war es gewohnt, Staaten Anweisungen zu geben und gut ist, und die politischen Diskurse in DE verlaufen normalerweise auch "robuster" ab.
Im einen Fall ist aber das Appeal der radikalen Parteien (gilt für "echte Linke" ja genauso; diese sehen ja auch schnell mal Nazis, wo andere nur altgediente Kader sehen): Dass altgebrachte Rituale, von denen lediglich die Gesten, nicht jedoch der Inhalt noch Bestand hat, und deren Abrufen für die meisten Bürger keinerlei Nutzen hat, sondern lediglich ein Nichtangriffspakt unter den Mächtigen selbst ist umgeworfen werden, nicht eingehalten werden. Das stört zunächst mal die soziale Ordnung, aber solche Abkommen und deren Bedingungen müssen auch wirklich ab und zu erneuert werden, wenn sie nicht zur bloßen Geste ohne jeglichen Bezug verkommen sollen. Denn natürlich findet man über die Jahre die besten winkeladvokatorischen Zugänge, die aber den ursprünglichen Gedanken maximal entkernen: In dem Moment, wo Regeln überlistet werden können, müssen sie eigentlich aktualisiert werden. Wenn das nicht geschieht, dann darum, dass es den Mitspielern, die das tun könnten, zum Vorteil gereicht weiter nach den alten Regeln zu spielen. (Zumal man ja auch die eigene Legimität einbüßen würde, wenn die Regeln, nach denen man nach oben kam, angezweifelt würden.) Man sollte daher "Revoluzzern" wie der AfD weder übermäßigen Idealismus unterstellen (für sie LOHNT es sich auch schlicht nicht, die alten Regeln zu bedienen), noch der alten Garde maximales Kalkül (nicht wenige dürften diese Regeln wirklich für fair halten, denn sonst wären eigene Erfolge ja schurkische Coups gewesen).
In Bezug auf Erdogan lernen wir, was Realpolitik ist, und wie sich Gesetze und Anordnungen in der EU faktisch durchsetzen: Weil die benachteiligten Staaten nicht am längeren Hebel sitzen (cf. Griechenland). Da müsste man auch mal die Logik von einem Staatenbund neu denken, wenn Erpressbarkeit vor gemeinsamen Zielen Vorrang hat.
Und in beiden Fällen lernen wir, dass die eigene Rolle ganz schnell ins Wanken gerät, wenn das Gegenüber sie nicht anerkennt, sondern es drauf ankommen lässt. Da zerbröselt dann ganz schnell vermeintlicher Rückhalt, und der Kaiser steht nackt da.
In beiden Fällen hat man sich offenbar die falschen Leute rausgesucht, um mit einem schelmischen Grinsen und einem "na, was wollt ihr euch denn aufregen?" durchzukommen.
Aber auch wenn Renovation der Choreographie Not tut, wäre es halt schön, wenn die Fallhöhe geringer wäre (sympathischere Hauptakteure auch, aber die sucht man sich da nicht raus). Im einem Fall geht es um Europa, im anderen Fall "nur" um Deutschland und seine Zivilgesellschaft. Trotzdem, irgendwann muss es knallen, und ein Warnschuss ist besser als ein Kopfschuss.
Zuletzt geändert von Alphex